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Aggressionen in der Kita

Sonja Kaemper sprach bei ihrem Vortrag am 9.12.2022 zum Thema Umgang mit Aggressionen in der Kita. Hier finden Sie ihre Ausführungen zusammengefasst.

von Sonja Kaemper
05.01.2023

Kinderpartizipation | © Maria Suckert
Kind beim Malen | © Maria Suckert

Der Wissenschaftler, Psychologe und Psychotherapeut Klaus Fröhlich-Gildhoff hat im September 2022 zusammen mit 150 weiteren WissenschaftlerInnen aus dem Arbeitsfeld „Frühpädagogik“ einen dringenden Appell mit nachfolgendem Titel an die Politik gerichtet:

„Das Kita-System steht vor dem Kollaps – WissenschaftlerInnen fordern die Politik zum schnellen Handeln auf.“

Fröhlich-Gildhoff lobt die unermüdlichen Anstrengungen der Fachkräfte in den Kitas, sieht aber kaum noch eine Möglichkeit, dass sie ihre Arbeit qualitätsgerecht zum Wohl der Kinder ausüben und dabei konstruktiv und sensibel mit den Familien zusammenarbeiten können.

Er benennt die Folgen, die sich aus dem sehr belasteten System Kita ergeben:

  • Die Zahl der psychisch kranken Kinder hat sich durch die Corona-Pandemie von 20 auf 30 Prozent erhöht.
  • Es gibt klare Hinweise auf erhöhte Spannungen in den Familien und auf einen Anstieg häuslicher/familiärer Gewalt.
  • Es fehlen bis zum Jahr 2025 179.000 Fachkräfte in den Kitas.
  • Seit mehreren Jahren ist als deutliches Zeichen für die Belastung der pädagogischen Fachkräfte ein sehr hoher Krankenstand aufgrund psychischer Erkrankungen (im Vergleich mit anderen Berufsgruppen) zu verzeichnen.

Aus meiner Sicht wird hier sehr deutlich, dass das gesetzlich verankerte Recht von Kindern auf Bildung, Förderung und bedürfnisorientierte Betreuung kaum noch gewährleistet werden kann – vielleicht manchmal das Wohl des Kindes schon stark gefährdet ist.

Für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten ist der Umstand des „stark belasteten Systems“ besonders tragisch, weil sie in ganz besonderem Maße Zeit und andere Ressourcen benötigen.

 

Belastete Kinder in den Kitas

Kinder, die mit aggressiven Verhaltensweisen in unseren Kitas auffallen, sind psychisch belastete Kinder, wenn die Aggressionen sich mit Formen von Gewalt gegen sich und andere richten.

Diese Kinder befinden sich in einem Teufelskreis.

Sie fühlen sich in vielen Situationen frustriert, bedroht, von anderen abgelehnt und schlecht behandelt.

Sie reagieren mit aggressivem Verhalten.

Dieses Verhalten führt dazu, dass sie Vergeltung erfahren, Bestrafung oder Ablehnung.

Das führt zu erneuten Aggressionen beim Kind.

Diese belasteten Kinder sind immer Kinder mit Problemen, „schwierige Kinder“, die für ihr Verhalten keine Schuld tragen und keine Verantwortung übernehmen können, weil es ihnen noch nicht möglich ist, anders als destruktiv zu handeln.

Verhaltensauffällige Kinder haben oft psychische Störungen und diese treten (auch bei Erwachsenen) fast immer in Kombination mit erheblichen Defiziten in der Emotionsregelung auf.

 

Verantwortung

Die Verantwortung für das Einüben des Umgangs mit Emotionen liegt zuallererst in den Familien.

Emotionen regulieren können Kinder in ihrer Familie lernen,

  • wenn ein emotionales Familienklima herrscht und keine Emotion tabuisiert oder unterdrückt wird.
  • wenn die Qualität der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern gut ist.
  • wenn alle Emotionen gelebt werden und es Vorbilder im positiven Sinne gibt.

Wenn man die Belastungen in vielen Familien berücksichtigt und das Defizit vieler Kinder, die das Regulieren ihrer Gefühle noch nicht gelernt haben und sehr große Probleme haben, dann wird deutlich, dass Familien überfordert sind und den Kitas im Sinne des Vorlebens von Emotionsregulation eine sehr große Bedeutung zukommt.

Sicher ist es möglich, Familien auf die Verantwortung hinzuweisen und es macht auch Sinn, sie im Rahmen der Erziehungspartnerschaft für gemeinsame Hilfen für das Kind zu gewinnen…doch nicht immer sind Familien in der Lage, diesen Bemühungen mit unterstützendem Verhalten nachzukommen.

Wenn auch Familien eher Bedürftige sind und keine Ratsuchenden, Verbündete oder Vertraute im gemeinsamen Prozess der Frühen Hilfen für das Kind, dann steigt die Verantwortung im System Kita.

 

Bedeutung von Kindertageseinrichtungen für die psychische Gesundheit

Dann ist es vielleicht ausschließlich „die Kita“, die dem Kind Hilfen zur Regulation von Gefühlen vorleben kann.

Dann sind die Fachkräfte dort die entscheidenden Vorbilder, Impulsgeber, Wegweiser.

Dann ist die Kita vielleicht der einzige Ort, an dem alle Gefühle eines Menschen einen Platz haben und es keine guten oder schlechten Gefühle gibt.

Dann ist die Kita der Ort, an dem ein Teufelskreis (s.o.) in Sachen „Aggressionen“ durchbrochen werden kann.

Dann sind die erwachsenen Menschen in den Kitas wie ein Kompass, wenn es um Gefühle geht.

 

Aggressionen haben ihren Sinn

Aus diesem Grund ist es für alle pädagogischen Fachkräfte, die mit Aggressionen in der Kita gut und professionell umgehen wollen, sehr wichtig, diese richtig einzuordnen:

Aggressionen sind nicht schlecht, Gefühle wie Zorn, Hass und Wut gehören zu der großen Palette von Gefühlen genauso dazu wie Trauer, Neid, Freude, Angst oder Glück.

Alle Gefühle machen uns Menschen aus, alle sind in Ordnung und grundsätzlich nicht falsch, sondern richtig.

Weil unser Gehirn immer möchte, dass es uns gut geht, nutzt es aggressives Verhalten als Versuch, in schwierigen oder bedrohlichen Situationen Orientierung und Kontrolle zurückzugewinnen.

Natürlich ist Gewalt keine Lösung, da werden Gefühle aber schon reguliert und das schaffen Kinder noch nicht, besonders jüngere Kinder müssen es noch über Jahre erlernen.

 

Aggressionen sind oft sehr nützlich und sehr positiv zu bewerten:

Sie sind nützlich, um eigene Ziele zu erreichen.

Sie sind kraftvolle Gefühle und haben eine nicht zu übersehene Signalwirkung.

Sie zeigen Wünsche und Bedürfnisse und Anliegen.

 

Kindliche Aggressionen zeigen uns an:

„Ich brauche Hilfe, ich kann meine Gefühle nur schwer regulieren, ich brauche Begleitung im Prozess.“

 

Wenn es uns in den Kitas gelingt, Kinder mit auffälligem Sozialverhalten als Kinder mit Behinderungen im zwischenmenschlichen Verhalten zu begreifen, dann fällt es uns leichter, ihre Hilfsbedürftigkeit zu sehen und anzuerkennen.

Wie ein Kind, das eine starke Sehbehinderung hat und viel Unterstützung und Begleitung benötigt, so benötigt auch ein Kind mit fehlender Emotionsregulation viel Hilfe, Zuwendung und Unterstützung…und vor allem Akzeptanz für ein schwieriges und problematisches Verhalten, das Zeit braucht, um sich zu verändern.

Geduld, Aufmerksamkeit, Wohlwollen und die Zuversicht, dass das Kind sein Verhalten ändern kann, sind entscheidend.

Auch die Gruppe der anderen Kinder sind wichtige Menschen, die Fürsprecher, Unterstützer und einfühlsame Begleiter sein können, wenn Akzeptanz und Wohlwollen vorgelebt werden und das „schwierige Kind“ ein „Kind mit Schwierigkeiten“ wird.

 

Persönliche Anforderungen im Umgang mit Aggressionen

Damit pädagogische Fachkräfte einen guten Zugang zum eigenen Umgang mit Aggressionen und den Gefühlen Zorn und Wut und auch der Gewalt in der Kita bekommen, ist eine ehrliche und offene Auseinandersetzung entscheidend wichtig.

Forscher und Entdecker sein, die eigene Gefühlswelt erkunden und einen persönlichen Zugang zur breiten Palette von Emotionen erlangen ist wichtig.

Die eigene Seelengesundheit im Umgang mit allen menschlichen Emotionen und deren Integration in den Alltag ist entscheidend, um für seelisches Gleichgewicht und seelische Gesundheit zu sorgen.

Das Verstehen, Annehmen, Einordnen und Ausleben aller Gefühle macht es uns möglich, gut für uns zu sorgen und die Gefühle als Kompass zu nutzen, um klar und frei „Ja“ oder „Nein“ sagen zu können.

„Ja“ oder „Nein“ erlauben es uns, gegen Überforderung und Überlastung zu steuern und authentisch und ehrlich zu leben.

 

In diesem Zusammenhang ist das Zitat von Astrid Lindgren wertvoll:

Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss, wie andere Menschen!

 

Kita als Ort für alle Gefühlswelten

In einer Kita, in der „frei sein im Fühlen“ einen hohen Wert darstellt, da gilt das Recht der Kinder und Erwachsenen auf alle Gefühle.

Ein offener Gefühlsaustausch schafft gute Bedingungen für ein Selbstwertgefühl, das sich so zeigt:

„Ich kenne mich gut, meine Gedanken, Gefühle, Wertvorstellungen und meine Reaktionen darauf und ich kann mich passend dazu verhalten, ohne die Freiheit anderer einzuschränken."

In einer Kita, in der die Regulation und der Ausdruck von Gefühlslagen geübt werden darf,

  • gibt es viel Zeit für das freie Spiel
  • wird das „Nein“ eines Kindes akzeptiert
  • dürfen wütende Kinder wüten, schreien, raufen und toben
  • gibt es viele Kompromisse
  • wird jede Gefühlslage ernst genommen
  • ist Entschleunigung wichtig, damit Gefühle Raum haben
  • lernen die Kinder Ruhe- und Entspannungstechniken
  • gibt es viele Pausen
  • gibt es Rückzugsmöglichkeiten
  • werden Rollenspiele gefördert
  • haben Kinder viel Platz für Bewegung und ist das „draußen sein“ ein tägliches Angebot
  • gibt es klare Regeln
  • sind alle Gefühle wichtig und erwünscht
  • erleben Kinder viel Körperkontakt
  • werden auch ganz kleine Erfolge gesehen und „gefeiert“
  • arbeiten pädagogische Fachkräfte, die sich selbst gut kennen und sich heilsam mit ihrer eigenen Akzeptanz von Gefühlen auseinandergesetzt haben.

 

In jeder Kita gibt es so viele Persönlichkeiten wie Personen.

Diversität im Kita-Team eröffnet Kindern und ihren Familien viele Chancen, dass unterschiedliche Charaktere, Kulturen, Religionen…ein Gegenüber finden.

Weil Kinder zu 93 % von dem Lernen, was Erwachsene tun, und nur zu 7 % von dem, was Erwachsene sagen,

ist viel Reden nicht so effektiv und sinnvoll, sondern das richtige Tun und das Vorleben!

 

Emotionscoaching

Kinder, die ihre Gefühle nicht angemessen regulieren können, brauchen einen Erwachsenen, der sie einfühlsam durch den Prozess begleitet.

  • Wichtig ist ganz besonders: Ruhe bewahren.
  • Ich unterstütze das Kind, in dem ich an seiner Seite bin und es danach frage, wie es sich fühlt. Ich helfe ihm, sich sprachlich auszudrücken. Ich nehme seine Gefühle sehr ernst und spiegele sie.
  • Ich helfe dem Kind, angemessen mit der Situation umzugehen.
  • Ich benenne Regeln, mache aber parallel auch Vorschläge zur Problemlösung.
  • Ich gebe dem Kind Zeit, sich zu beruhigen.
  • Vielleicht ist dafür ein Ortswechsel (raus aus der Situation) nötig.
  • Ich bin an der Seite des Kindes und helfe ihm, einen Versöhnungsweg zu finden.
  • Ich versuche, Empathie mit dem Opfer herzustellen.

 

Helfen und Heilen

Es gibt einen schönen „Heilungsgedanken“, den Anke Bollmann in ihrem Buch „Seelenprügel“ formuliert:

„Jeder, der mit Kindern zu tun hat, für sie sorgt und mit ihnen arbeitet, sollte ihre Begabungen, Fähigkeiten und ihren Grad an Verletzlichkeit kennen.

Erst, wenn man ein Kind in der Tiefe kennt, kann man ihm genau das anbieten, was es im Grunde seiner Seele wirklich braucht.“

 

Literaturempfehlungen

Für Fachkräfte:

Jesper Juul: Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist

Anke Ballmann: Seelenprügel

Kathrin Hohmann: Gemeinsam durch die Wut – Wie ein achtsamer Umgang mit kindlicher Aggression die Beziehung stärkt

Gabriele Haug-Schnabel: Umgang mit aggressivem Verhalten von Kindern

Frank und Gundi Gaschler: Ich will verstehen, was du wirklich brauchst –  Gewaltfreie Kommunikation mit Kindern

 

Gefühlswelten für Kinder:

Mies van Hout: Heute bin ich

Das Farbenmonster – das Spiel voller Gefühle

Jutta Bauer und Kirsten Boie: Kein Tag für Juli

 

Hilfreich für Eltern:

Jesper Juul: Elterncoaching  - Gelassen erziehen

Jesper Juul: Leitwölfe sein – liebevolle Führung in der Familie

 

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